Gallery Weekend Report 2019
Eigentlich wollte ich ja nur diese Maus sehen.
Aber weil Philip Mollenkott sich seit kurzem sehr stark für Kunst interessierte, kam alles anders. Von einem Tag auf den anderen sprach er nur noch von Kunst. Und von Frauen in der Kunst: „Auf diesem Gallery Weekend tummeln sich haufenweise Frauen, die bis oben hin gestopft sind mit Geld!“, rief er. „Davon schnapp ich mir eine, und dann muss ich nie wieder arbeiten!“
Begeistert lachten wir über diesen wunderbaren Plan.
Dann sprangen wir in den Wannsee, der an diesem Apriltag noch sehr kalt war.
„Gut, dann fahren wir auf dem Rückweg nach Mitte einfach am Kudamm vorbei“, erklärte ich Mollenkott als wir uns abtrockneten, „bei Prada gibt es einen Cocktail-Empfang für Andreas Mühe!“
„Den kenn’ ich“, sagte Mollenkott, „und bestimmt kommen auch viele Frauen zu diesem Empfang! Reiche Frauen!“
„Bestimmt.“
Auf der Fahrt erzählte ich Mollenkott von dieser kleinen Maus, über die ich irgendwo einen Bericht gesehen hatte: „Eine kleine, dressierte, weiße Maus, die aus einem Loch in der Wand schaut, und die sogar sprechen kann!“
„Und diese Maus ist auf dem Gallery Weekend zu sehen?“
„Ja, genau!“
„Und wo?“
„Keine Ahnung, das fragen wir Maike, sie hat das ja alles organisiert und weiß bestimmt ganz genau, wo was ist!“
„Sehr gut!“
Als wir bei Prada ankamen, wunderte man sich über die vielen Kinder, die wir vom Wannsee mitgebracht hatten.
„Also noch einmal …“, sagte die völlig überforderte Empfangsdame zu uns, „Sie sind Herr Horzon, und das hier ist Ihr Lebenspartner namens Signora Sarasate?“
„Ja genau“, bestätigte ich und zeigte dann auf die Kinder, die grade kreischend an uns vorbei in den Laden rannten. „Und das hier sind unsere Kinder!“
Dann kam eine andere Frau, die speziell für solche schwierigen Fälle ausgebildet worden war, und schob sich lächelnd vor die Empfangsdame: „Herzlich willkommen, Herr Horzon, und ein herzliches Willkommen auch den lieben Kindern!“
„Gibt es bei Ihnen auch Mäuse?“, fragte ich die Frau.
„Dumme Frage“, sagte Mollenkott und winkte einer juwelenbehängten Dame zu, die gerade ihr Champagnerglas zum Munde führte.
„Ja also, Mäuse … ich weiß nicht“, sagte die Prada-Chefin, „vielleicht möchten Sie erstmal ein Begrüßungsgetränk haben …“
Ich entschied mich für ein Glas Gras-Schorle, Mollenkott für 2 Gläser Champagner.
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Im oberen Stockwerk trafen wir auf Marc Hosemann, Johann König und Lars Eidinger. „Ah, bist Du auch von Prada eingekleidet worden?“, fragte mich Eidinger, der – genau wie ich – ziemlich knappe Shorts, Segelschuhe und ein Kapitäns-Sakko anhatte.
„Nein, leider nicht, ich komme nur gerade vom Segeln, deshalb …“
Aus dem Augenwinkel sah ich, wie zwei der Kinder sich gerade Handtaschen aus dem Regal nahmen und verkehrt herum als Hüte aufsetzten.
Aus dem anderen Augenwinkel sah ich, wie Mollenkott drei Damen zuprostete und ihnen Komplimente über ihre schweren goldenen Armbänder machte.
„Kommst du gleich mit zum Hamburger Bahnhof?“, fragte ich Eidinger, „Andreas Mühe eröffnet doch jetzt seine große Ausstellung …“
„Nein, nein“, lächelte Eidinger müde, „ich muss doch jetzt gleich Richard III spielen!“
Kaum vorstellbar, dass dieser schüchterne Junge im Matrosenanzug sich in wenigen Minuten in einen missgestalteten, schreienden Psychopathen verwandeln und ein unbeschreibliches Gemetzel anrichten sollte, nur wenige Meter von hier entfernt …
„Gehören diese Jugendlichen zu Ihnen?“, fragte mich ein Bediensteter und zeigte auf ein paar Kinder, die mit ihren Schuhen gerade in Prada-Handtaschen schlüpften und damit wie Roboter durch den Laden trampelten.
„Nein, tut mir leid“, sagte ich und nahm dem Kellner eine weitere Gras-Schorle vom Tablett.
Im Hintergrund entdeckte ich Mollenkott, der gerade einer Grunewalder Gräfin das Perlenkollier abnahm und sich lachend um den Hals legte. „Nur so zum Spaß“, wie er mir zurief. „Nur mal sehen, wie mir das so steht!“
„Vielleicht gehen wir jetzt lieber“, rief ich zurück, „Hamburger Bahnhof fängt ja auch gleich an!“
Von der Balustrade aus sah ich, wie die Kinder sich von den Prada-Hostessen Goodie-Bags aushändigen ließen und damit schreiend zum Auto rannten.
„Was für ein schöner Tag“, rief ich, als wir uns in die Ledersitze unseres Autos fallen ließen.
Mollenkott sagte nichts. Als ich mich zu ihm drehte, sah ich, dass er weinte.
„Ja“, sagte ich leise, „ich weiß …“
„Schon gut, ich hab’ mich schon wieder gefangen“, sagte Mollenkott und zündete sich eine Zigarette an. „Alles wieder gut! Und sehen wir jetzt endlich diese kleine weiße Maus, von der du erzählt hast?“
„Ja genau, die Maus!“, schrien die Kinder auf der Rückbank.
„Bestimmt!“, rief ich. „Es gibt da alles Mögliche im Hamburger Bahnhof! Auch ein Café, wo man was essen kann!“
„Sehr gut!“
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Der Platz vor dem Bahnhof war zum Bersten gefüllt. General-Intendant Udo Kittelmann stand neben der großen Bühne, die für die Reden aufgestellt war. Er kam gleich auf mich zu: „Schön, dass du gekommen bist, das freut mich wirklich sehr!“
„Ist hier eigentlich auch diese Maus?“, fragte ich ihn.
„Maus? Welche Maus?“ Kittelmann schaute mich verdutzt an. Dann stieg er auf die Bühne und begrüßte die Anwesenden.
„Schau mal“, rief Mollenkott, „da vorne ist Magnus Resch! Und Andreas!“
Andreas Mühe sah sehr gut aus in seinem neuen Anzug, aber auch etwas müde.
„Du wirkst ein bisschen abgekämpft, komm, wir gehen ins Café und essen ein Stück Torte“, rief Mollenkott und haute Mühe so stark auf den Rücken, dass er fast umfiel.
„Mann, ich kann doch jetzt hier nicht weg, jetzt kommen doch die ganzen Reden!“, sagte Mühe, der in diesem Moment seine schöne Schwester Anna Maria begrüßte.
„Ach, das ist ja reizend“, schrie eine Fotografin, „die beiden Geschwister zusammen! Ein Foto bitte!“
„Ab ins Café“, zischte Mollenkott und stieß mich in den Eingang des Bahnhofs. Auf dem Weg durch die endlosen Flure verliefen wir uns, brachen den Notausgang auf und fanden uns plötzlich im Freien wieder.
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„Na gut, dann fahren wir jetzt zum Gropius-Bau, dort ist der große Weekend-Empfang“, rief ich, „da gibt es bestimmt auch was zu essen, und da ist bestimmt auch Maike. Die können wir fragen, wo die Maus ist!“
Und tatsächlich: Kaum hatten wir das riesige Gebäude betreten, stand auch schon Festival-Direktorin Maike Cruse vor uns.
„Die Maus?“, rief sie, „Ach so, die Maus! Ja klar weiß ich, wo die Maus ist! Die ist in der Galerie …“ In genau diesem Moment stürzte sich ein gutgekleideter Herr auf sie und riss sie davon: „Los Maike, schnell! Interview-Termin!“ Es war Oberkultur-Attachee Prof. Dr. Thomas Girst.
Mürrisch bahnten wir uns den Weg durch die zirka fünftausend Kunstfreundinnen und Kunstfreunde, bis wir auf die Bar stießen. „Gibt es hier etwas zu essen? Oder Mäuse?“, fragte ich.
„Leider nur noch Getränke …“
„Dann nehmen wir drei Glas Champagner“, schrie Mollenkott.
„Für mich bitte nichts“, erklärte ich der Kellnerin, „oder haben Sie Gras-Schorle?“
„Gras-was?“, fragte die Kellnerin und beugte sich zu mir vor.
„Pass auf“, raunte ich Philip zu, „trink mal schnell deine Flöten aus, wir brauchen jetzt endlich was zu essen, und ich weiß auch schon, wo wir was bekommen!“
„Wo denn?“
„Bei diesem Essen von der Galerie Ruttkowski!“
„Ah, da wollte Johann doch auch hin! Aber der ist jetzt schon wieder bei Jeppe Hein!“
„Ja egal, wir fahren lieber gleich los, sonst kommen wir zu spät zum Dinner!“
„Aber ich habe ihm versprochen, dass wir ihn mitnehmen!“
„Wie bitte? Also schön, auf zu Jeppe Hein! Ist ja gleich um die Ecke!“
„Gibt es hier irgendwas zu essen?“, fragte ich Johann König, als wir bei Jeppe Hein ankamen.
„Ich glaube nicht, aber wir fahren doch gleich zu diesem Dinner!“
„Fünf Champagner!“, hörte ich Mollenkott der Studio-Managerin zurufen.
Drei Stunden später warfen wir uns ins Auto, knallten die Türen zu und gaben Vollgas. Nach etwa 50 Kilometern bemerkten wir, dass auf der Rückbank nicht nur Johann König und seine Frau Lena saßen, sondern noch eine dritte Person, die niemand kannte. Wie sich schnell herausstellte, kannte sie auch uns überhaupt nicht.
„Was macht Ihr so beruflich?“, fragte die unbekannte Frau.
„Wie kommen Sie in mein Auto?“, wollte ich wissen.
Nur wenige Stunden später waren wir endlich im Funkhaus Hannover angekommen, wo die Galerie Ruttkowski eine Ausstellung organisiert hatte.
Die interessanten Gäste strömten sofort auf uns zu, um uns zu begrüßen: Die schöne DJ Gigola und ihr ebenso schöner Verlobter Lorenzo Prossechio, der bedeutende österreichische Komponist Stickle und seine Verlobte Mika.
„Wusstest du, dass Julian jetzt auch Künstler ist?“, fragte mich Gräfin Palinski und zeigte auf den bekannten Tenor K. Ronaldo, der gerade vor einigen gigantischen bunten Pilzen für die Fotografen posierte.
Mäuse gab es hier allerdings auch nicht, und das Essen war natürlich auch schon längst vorüber.
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„Dann fahren wir jetzt eben zu Julia Stoschek“, krächzte Johann König, der von den vielen hektischen Verkaufsgesprächen in seiner Galerie schon ganz heiser war, „die hat bestimmt noch was zu essen!“
Hatte sie aber nicht! Dafür gab es reichlich Getränke, die die großzügige Sammlerin persönlich an ihre zirka dreitausend Gäste ausschenkte.
Am nächsten Morgen kamen Milen und Amédée Till zum Mittagessen. Milen hatte ein Gemälde aus Weinglas-Abdrücken mitgebracht, das ich sofort neben mein gigantisches Plattenbild von Gregor Hildebrandt hängte. Dann kam auch schon Philip Mollenkott vorbei: „Los, los, Rafi, anziehen, wir müssen raus, Frauen klarmachen!“
Beim Hinausgehen sah ich einige Kinder am Küchentisch sitzen, die mit Neon-Farben eine Urne anmalten: „Das macht richtig viel Spaß!“
Zuerst spazierten wir zur Galerie Neu, wo es allerdings nur Hai-Bilder gab. „Was meinst du denn, wieso Mäuse?“ sagte Thilo Wermke nachdenklich, „Du hast mir die letzte Rate doch schon vor Monaten gegeben, wir sind doch jetzt quitt, denke ich …“
Alexander Schröder stand inmitten der vielen Bilder und freute sich, wie die Haie wie riesige Torpedos aus dem Wasser schossen: „An irgend etwas erinnern mich diese gewaltigen Tiere“, strahlte er mich begeistert an, „ich weiß nur nicht, an was!“
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Auf dem Weg zu meiner Garage kamen wir an einer Galerie vorbei, mit einer mächtigen Menschentraube davor.
„Schau mal, Philip, so viele Leute!“, rief ich vergnügt.
„So viele Frauen“, flüsterte Mollenkott und knuffte mich in die Seite, während er aufmerksam die Handtaschen und Ringe der Besucherinnen musterte.
Am Eingang trafen wir auf einen Mann, den ich anhand seines spätkommunistischen Overalls und seines scharlachroten Halstuches sofort als den Künstler identifizierte. „Sie müssen Martin Eder sein, ich habe schon viel von Ihnen gehört!“, rief ich, während ich ihm freudig die Hand schüttelte. „Sehr witzig“, knurrte der Mann, der mich in die Galerie hineinschob und sich dann Mollenkott als Judy Lybke vorstellte.
Im oberen Stockwerk beobachtete ich, wie ein älterer Herr auf einen gekonnt nachlässig gekleideten Dandy einredete, der nun aber wirklich Martin Eder war: „Wie Sie es geschafft haben, in so kurzer Zeit so viele neue Bilder zu malen, das ist bemerkenswert!“
„Ach wissen Sie“, antwortete Eder und warf sich eine lange Haarsträhne aus dem Gesicht über die Schulter, „ich bin doch so wahnsinnig faul, deswegen male ich halt ganz schnell“.
„Und diese Kreativität, und diese Farben!“, fuhr der Bewunderer fort, „Und vor allem sind diese Bilder so …“
„Ja, vor allem sind diese Bilder so … rechteckig“, rief der Maler und zwinkerte mir zu. Dann beugte er sich zu mir herunter, weil ich so leise redete: „Wie bitte? Mäuse? Ja aber natürlich gibt es hier Mäuse“, rief er und zeigt auf seine Bilder, die, wir mir erst jetzt auffiel, ausschließlich spärlich bekleidete Damen darstellten. „Mäuse über Mäuse, such dir eine aus!“
„Nein, ich meine echte Mäuse! Kleine, weiße Mäuse, die sprechen können!“
„Lass abhauen, Rafi“, zischte Mollenkott mich an, „ich habe alles versucht, hier läuft nichts, lass mal zu diesem Dinner am Kudamm fahren, von dem du erzählt hast!“
Auf dem Weg nach Charlottenburg legte Mollenkott mir seinen Plan dar: „Im Sommer will ich mit dem Porsche nach Sylt fahren, verstehst du?“
„Mit welchem Porsche denn?“
„Na mit dem Porsche, den wir jetzt bei diesem Dinner klarmachen! Reiche Frauen fahren Porsche, kapier das bitte endlich!“
In der prächtigen Wohnung am Kudamm begrüßte uns der Chefredakteur des Blau-Magazins, Cornelius Tittel, zusammen mit dem Chefdesigner der Firma Oliver Peoples, der gerade einige Sonnenbrillen mit bunt gefärbten Gläsern auf einem großen, runden Tisch arrangierte.
„Diese Wohnung gehörte einst dem Medien-Mogul Axel Cäsar Springer“, erklärte ich wichtigtuerisch Philip Mollenkott, der mit großen Augen durch die Räume schritt. „Auf dem Dachboden gibt es sogar noch eine Funkstation, mit der Springer weiter Nachrichten senden wollte, wenn die Russen einmal in West-Berlin einmarschiert wären!“
„Interessant“, sagte Mollenkott, während er mit prüfendem Blick einen goldenen Aschenbecher vom Tisch nahm, „und jetzt sitzt also die Blau-Redaktion in diesem Palast, und zahlt uns dieses Dinner, sehr nett, sehr nett …“
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„Ganz genau“, sagte ich und drehte mich zu Cornelius Tittel, „heute ist alles umsonst, Getränke, Essen, einfach alles, das ist doch so, oder Cornelius?“
„Ach, Rafi, stell bitte nicht immer so blöde Fragen“, rief Tittel verärgert und wandte sich der jungen Grisebach-Chefin Diandra Donecker zu.
„Du hast gehört, was Tittel gesagt hat: Es ist alles umsonst!“, flüsterte ich Mollenkott zu und steckte mir zwei der kostbaren Peoples-Sonnenbrillen in die Hosentasche.
Mollenkott zauderte nicht lange und stopfte sich auch zwei Sonnenbrillen ins Jackett.
Dann wurde das Essen serviert. Als Vorspeise gab es blanchierten Spargel mit Chia-Grisaille. Mir gegenüber saß Sir Norman Rosenthal, der seine Spargelstangen ganz ohne Besteck mit gespreizten Fingern zum Mund führte, dann nur den Kopf abbiss und den Rest des Spargels einfach wieder auf den Teller plumpsen ließ. Ich machte es ihm nach und zwinkerte ihm zu, während ich den Spargelkopf abbiss.
Nach dem Essen schoss ich auf Ulf Poschardt zu: „Kannst du mir eigentlich den Unterschied zwischen Art-Handling und Kunst-Handel erklären?“
„Aber natürlich kann ich das“, sagte Poschardt und legte väterlich seinen Arm auf meine Schulter. Dann folgte ein zweistündiger Monolog über italienische Sportwagen.
Den restlichen Abend schlenderte ich mit Philipp Wolff von Raum zu Raum, plauderte mit Jakob Augstein, dann mit der hochintelligenten Wissenschaftlerin Greta von Oswald, dann steckte ich mir noch ein paar Sonnenbrillen ein und fuhr zufrieden nach Hause.
Um 15 Uhr klingelte mich Mollenkott aus meinem tiefen, traumlosen Schlaf: „Komm runter“, schrie er in die Sprechanlage, „wir wollen doch zu dieser Ausstellung mit den Juwelen!“
„Ach ja“, schoss es mir durch den Kopf, „die Hornemanns!“
„Hör mal zu“, sagte ich zu Mollenkott, als wir mit dem Auto auf die Siegessäule zuschossen, „es ist sehr wichtig, dass wir uns gut benehmen, bei den Hornemanns. Also bitte nichts einstecken, nichts anfassen, das sind superteure Juwelen, und die finden das gar nicht lustig, wenn da plötzlich etwas fehlt!“
„Aye aye, Captain“, sagte Mollenkott, während er gedankenverloren den Rauch aus dem Autofenster pustete.
Im Entree der riesigen Hornemann-Etage in der feinen Schlüterstraße begrüßte uns Claudia Hornemann und führte mich durch die Räume. Mollenkott ging auf die Suche nach Champagner.
„Also hier haben wir einen Memphis-Tisch von Peter Shire“, erklärte mir die Dame des Hauses, und hier eine Kommode, und diesen Möbeln haben wir Schmuckstücke aus unserer Werkstatt gegenübergestellt …“
Begeistert starrte ich in die Vitrinen voller Gold und Juwelen.
„Habt ihr auch Mäuse?“, wollte ich wissen.
„Ja, natürlich, hier drüben!“ Wir gingen in den nächsten Raum, in dem eine Vitrine an der Wand hing. Und in dieser Vitrine gab es tatsächlich 2 kleine Mäuse! Sie waren allerdings blau.
„Können die auch sprechen?“
„Ähhh, nein, sprechen können die nicht“, sagte Claudia Hornemann und schaute mich irritiert an, „das sind ja nur Wachsmodelle, die dann abgegossen werden.“
Die große Goldkette von Alexander Hornemann war allerdings wirklich sehr schön. Als ich gerade nachzählte, aus wie vielen goldenen Pyramiden sie bestand, sah ich aus dem Augenwinkel plötzlich, wie Philip Mollenkott von einem silbernen Tablett einen riesigen goldenen Klunker in die Hand nahm, sich in den Mund steckte und einfach herunterschluckte.
„Bist du des Wahnsinns?“, flüsterte ich und versuchte, Mollenkotts Mund aufzuhebeln.
„Was ist denn los?“, fragte Claudia Hornemann, die uns neugierig beobachtete.
„Nichts!“, lispelte ich. „Alles gut!“
„Schön“, sagte die Gastgeberin, nahm jetzt auch einen Goldbrocken vom Tablett und steckte ihn sich in den Mund. Dann reichte sie mir das Tablett: „Du musst unbedingt unsere Pralinen probieren, sie sind mit echtem Blattgold vergoldet!“
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„Das ist gerade nochmal gutgegangen!“, rief ich, als wir wieder auf der Schlüterstrasse waren. „Jetzt fahren wir mal lieber zu Anselm Reyle, das ist im Freien, da kann man nicht so viel kaputtmachen!“
„Ich hab’ doch gar nichts kaputt gemacht!“
„Aber fast!“
Auf Anselm Reyles weitläufigem Grundstück an der Spree erwartete uns schon Timon Karl Kaleyta, der bekannte Journalist. Er war wie immer bester Laune. Als erstes führte er uns in die Werkstätten des Künstlers. Überall lagen neugemalte Bilder auf den Arbeitstischen. Irgendwie beruhigte es mich, dass es jetzt wieder aussah wie früher. Denn als ich das letzte Mal hier war, hatte Reyle gerade seinen Ausstieg aus der Kunst proklamiert, das ganze Atelier stand leer und verstaubte. Aber jetzt war wieder alles wie früher.
„Hast du nicht was von kistenweise Ruinart erzählt“, wollte Mollenkott jetzt von mir wissen, „wo ist der denn jetzt?“
„In meinem Haus müssten noch ein paar Kisten sein“, sagte Reyle, der gerade dazukam, und zeigte auf seine herrliche Villa.
„Kann doch wohl nicht wahr sein, dass dieser Reyle so wahnsinnig nett ist, so gut aussieht, so schöne Sachen herstellt und dann noch so eine krasse Villa an der Spree hat“, knurrte Mollenkott während wir staunend durch die Etagen schritten, „hat er nicht vielleicht auch noch eine Schwester?“
„Bitte nichts anfassen, bitte nichts einstecken, bitte nichts kaputtmachen!“, ermahnte ich Mollenkott.
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Dann fuhren wir mit dem Boot zu den Ateliers von Alicja Kwade, Jorinde Voigt und Christian Jankowski, die praktischerweise genau gegenüber liegen.
„Kennst du eigentlich Rafael Horzon?“, krächzte Johann König am Bootsanleger und schob mir Daniel Birnbaum entgegen. „Rafael ist Ehrenmitglied im Mensa-Club, Marcel Duchamp-Experte, Unternehmer, und er hat eine Theorie der Neuen Wirklichkeit entwickelt, also eigentlich alles genauso wie bei dir!“ Dabei checkte König auf seinem Handy die Börsenkurse in New York, unterlegte noch schnell einen Film von Jeppe Heins Hochglanz-Ballons mit der Musik von Nenas „Neunundneunzig Luftballons“ und stieg dann mit Birnbaum, David Chipperfield und Pamela Anderson ins Boot, um zu Reyle zu fahren.
„Unglaublich, was dieser Mensch leistet“, dachte ich, während ich dem Boot hinterherwinkte.
„Komm, Rafi, nicht träumen“, rief Mollenkott und schlug mir auf den Rücken, „wir haben noch viel vor heute! Und jetzt erstmal: Dinnertime!“
Ach ja, das Dinner!
Im riesigen Saal des Postbahnhofs herrschte eine unfassbare Atmosphäre. Genau 1111 geladene Gäste saßen an den festlich gedeckten Tischen und warteten auf den ersten Gang, schrien, lachten und winkten, während Festival-Direktorin Maike Cruse durch die Gänge zwischen den Tischen schritt und prüfte, ob alles seine Ordnung hatte.
„Maike, du hast Unglaubliches geleistet!“, rief ich ihr entgegen.
„Ja, puh, danke“, rief Cruse, „ich stehe seit drei Tagen in der Küche, das muss man erstmal hinkriegen, Lachs und Truthahn für 1111 Gäste!“
„Und wo ist jetzt die Maus?“
„Ach ja, die Maus! Also pass auf! Die Maus ist in der Galerie …“
In genau diesem Moment stürzte sich ein gutgekleideter Herr auf sie und riss sie davon: „Los Maike, schnell! Foto-Termin!“ Es war Kultur-Attachee Prof. Dr. Thomas Girst!
Das Essen war trotzdem gut, ich plauderte noch eine Weile mit Dr. Niklas Maak, Dr. Peter Richter und Dr. Magnus Resch und fiel dann angenehm gesättigt ins Bett.
Am nächsten Morgen fuhr ich mit Mollenkott zum Mittagessen ins Café Einstein. „Hast du auch so viel von Jakob geträumt?“, fragte er mich.
„Ja, irgendwas mit einem U-Boot und mit einer Rutsche auf einem Spielplatz …“
„Eine Riesenscheisse ist das alles!“, sagte Mollenkott, während er den Rauch aus dem Autofenster blies. „Und kein Mensch auf der Welt kann sich vorstellen, wie einsam ich mich fühle …“
Nach dem Essen wollten wir zu Andreas Murkudis gehen und uns neue Jacken kaufen, dann nahmen wir aber den falschen Eingang und standen plötzlich in der Galerie von Guido Baudach. Begeistert starrten wir in die Vitrinen des Bricolage-Meisters Björn Dahlem. Mäuse gab es hier allerdings auch nicht.
Beim Hinausgehen stießen wir auf eine Mitarbeiterin der König-Galerie. Ich knuffte Mollenkott in die Seite: „Wenn es irgendjemanden gibt, der weiß, wo die kleine Maus ist, dann ist es diese zierliche Person!“
„Ja, natürlich“, erklärte uns die Mitarbeiterin namens Verena ganz unbefangen, „ihr geht einfach in die Galerie Esther Schipper, hier im Haus, dort findet ihr sie.“
„Vielen Dank!“
„Bitte, gern.“
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Mit klopfenden Herzen öffneten wir die Tür der Galerie.
An der Decke hingen große Bildschirme.
Auf dem Boden lagen riesige, halb ausgerollte Teppiche.
Und ganz hinten entdeckte ich sie. Die Maus.
Sie hatte ein Loch in die Galeriewand gefressen und schaute aus diesem Loch heraus, drehte den Kopf mal nach links, mal nach rechts, dann hielt sie inne, dann nickte sie ein bisschen. Dann schaute sie nach oben und schnupperte.
„Das ist wirklich die süßeste Maus, die ich je gesehen habe“, flüsterte Mollenkott, „und sie ist wirklich echt! Eine lebende Maus!“
„Das sehe ich genauso“, sagte ich, „aber was sagt sie?“
Wir knieten uns vor die Maus hin, aber es war immer noch nicht zu verstehen, was sie sagte.
Dann schob ich den Schutt zur Seite, der vor ihrem Loch lag, und beugte mich ganz tief zu ihr hinab, so dass mein Ohr fast ihre Nasenspitze berührte.
Und dann konnte ich plötzlich hören, was sie sagte:
„Hallo Rafi! Ich bin es, Carl Jakob! Ihr müsste Euch keine Sorgen machen! Mir geht es gut!“
Für Carl Jakob Haupt, 18. Dezember 1984 – 19. April 2019
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