1918, noch während des Ersten Weltkriegs, wird die Kunsthalle Bern eröffnet. 1997, das heißt knapp 80 Jahre später, 138 findet die Einzelausstellung des amerikanischen Künstlers David Hammons statt. In der Geschichte dieser doch wegweisenden Institution ist es die erst sechste Präsentation eines nicht-weißen Künstlers. Oder, wenn man anders zählt, die zweite. Denn sind die Ausstellungen "Kunst der Südsee" (1952), "Kunst der Neger" (1953), "Prähistorische Felsbilder der Sahara" (1961) und "Kunst aus Tibet" (1962) wirklich nicht-weiße Ausstellungen? Auch wenn sie versuchten, den westlichen Kunstbegriff zu erweitern, behandelten sie das Andere doch nur als Phänomen, um den Status quo einmal mehr zu zementieren.
Vor Hammons kam als Nummer eins Frédéric Bruly Bouabré (1923–2014, Elfenbeinküste). Seine Ausstellung eröffnete 1993 und war auch von Ulrich Loock organisiert, der von 1985–97 Leiter der Kunsthalle war. Bruly Bouabrés Entwurf eines persönlichen Alphabets hatte bereits 1989 in "Magiciens de la terre" in Paris für Aufmerksamkeit gesorgt. Mit dieser umstrittenen Ausstellung begann sich Europa erneut für nicht-westliche Kunst zu interessieren, die zum Thema für Feuilleton, Akademie, Institution und Markt wurde. Eine Debatte kam ins Laufen, die unter anderem die französische Kuratorin Catherine David im Hinblick auf ihrer documenta X (1997) weiter verschärfte. Hammons "Blues and the Abstract Truth", die einen Monat vor der documenta X eröffnete, ist auch vor diesem Hintergrund zu sehen. Wie der Pressetext zur Präsentation in Bern stolz verkündete, hatte Hammons nämlich die Einladungen zur documenta X, zu Skulptur Projekte Münster 1997 und zum amerikanischen Pavillon der Biennale di Venezia allesamt abgelehnt. Diese spektakulären Entscheidungen begleiten und prägen bis heute die Rezeption des Künstlers und seinem Werk. Er verweigert sich dem Zentrum und fordert es gleichzeitig durch gezielte Unberechenbarkeit heraus; er lehnt die vom weißen Establishment getragene Kunstwelt ab und wird von genau derselben ängstlich verehrt; er bezieht sich auf die afroamerikanische Kultur, will aber kein afroamerikanischer Künstler sein; und er sagt mit Recht, dass Leute seiner Herkunft noch immer ihre Kultur am Eingang abgeben müssen ("check their culture at the door"), eine Situation, die er anhand von Jazz erläutert: "Mein Volk hat diese europäischen Musikinstrumente genommen und hineingeblasen, und dabei haben sie ihr ganzes Elend und die Verrücktheit ihrer Erfahrung hineingeblasen. Vergessen wir nicht, dass ›Jazz‹ ein europäisches Wort ist. Wir nennen es ›schwarze klassische Musik‹. Jazz ist ein anderes Wort für ›nigger‹." (Parkett 31, 1992) Hammons unterläuft Erwartungen und überrascht mit Klarheit, was nicht selten zu Spannungen führt. Auch die Ausstellung in Bern war davon geprägt, angefangen beim Pressetext. Darin situierte Loock den Künstler im Kontext der afroamerikanischen Kultur und der "Blackness", wogegen Hammons heftig protestierte – wie Dokumente im Archiv der Kunsthalle zeigen. Im Katalog entfiel diese Sehweise fast ganz, um einer lakonischen Beschreibung der Ausstellung Platz zu machen.
"Blues and the Abstract Truth" war einer der an Höhepunkten reichen "Ära Loock". Sie gehört in die Reihe jener Ausstellungen, welche die Räume und Funktion der Kunsthalle Bern grundlegend hinterfragten. Hammons vorangegangen waren die Eingriffe von Sol LeWitt (1989), Heimo Zobernig (1994), Gregor Schneider (1996) und insbesondere Michael Asher (1992), der alle Heizungskörper mit ihren Leitungen in die Eingangshalle verschob und sie dort so platzierte, als wären sie Skulpturen.
Was aber war in "Blues and the Abstract Truth" zu sehen? Viel und wenig. Alle Fenster und Oberlichter waren mit blauer Folie überspannt, so dass die sieben Ausstellungsräume in tiefes Blau eintauchten. Im Eingang stand inmitten des Blaus eine sich selbst überlassene Orchidee. Im Raum rechts davon ertönte aus einer Box, bedeckt von einer zerknitterten Stoffbahn, Musik. Die folgenden zwei Räume waren voll blauen Lichts, sonst aber leer. Als einziges weiteres Element lag im Übergang zum letzten Raum ein großes, wie liegengelassenes Stück Papier, das eine weitere Tonquelle verdeckte. Im Untergeschoss schließlich hing ein Bang & Olufsen CD-Spieler an der Wand. Aus diesem sowie den zwei Geräten im Obergeschoss war in dezenter Lautstärke Musik von Miles Davis, Thelonious Monk und Muddy Waters zu hören. Mitten in diesem vorletzten Raum stand zudem ein von oben beleuchtetes Schlagzeug, auf dem eine ausgestopfte schlafende Katze lag. Das war’s. Es handelte sich um eine sparsame Inszenierung, die auf einfache und effiziente Weise verschiedene Sinne ansprach: Augen (blaues Licht), Ohren (Musik) und, über die Haptik der ausgewählten Materialien (Blume, Stoff, Papier, Metall, Pelz), den Tastsinn. Wie die Wörter eines Gedichts formten die Sinneserfahrungen ein Raumgefühl, das bis heute als blue und abstract in Erinnerung bleibt. Dieses dreidimensionale Gedicht hatte durchaus Referenzen zum Draußen, zur Idee der Nuit américaine im Film oder zur Geschichte des Jazz, aber alles im Modus der Zurückhaltung. Truth aber ist, dass man als Besucher, obschon mitten drin, doch nur ein Fremder blieb. Denn es war, als hätten wir hier zum ersten Mal unsere Kultur am Eingang abgeben müssen. —
DANIEL BAUMANN ist neuer Direktor der Kunsthalle Zürich / Daniel Baumann is the new director of the Kunsthalle Zurich.
Dieser Text ist der Printausgabe Spike Art Quarterly N° 41 erschienen und kann im Online-Shop bestellt werden.