Rückblick: Berlinale 2016, Teil 2

Ich dachte, mit der Zeit würde es einfacher werden, doch das Programm der Berlinale mit seinen knapp 500 Filmen bleibt ein Labyrinth, in dem man sich Jahr für Jahr aufs Neue verirren kann. Während die Tageszeitungen ihre Berichterstattung schon wieder heruntergefahren haben, floriert im Netz und auf den Straßen zwischen den Kinos länger noch die subjektivistische, schnell hinformulierte Ratgeber-Literatur. Viele Erwartungen erfüllen sich logischerweise nicht oder ganz anders. In der zyklischen Wiederholung emotionaler Berlinale-Pattern folgt auf die aufgedrehten Unterhaltungen der Eröffnungen, im Reden über gelungene Arbeiten und affiziert von seltener Kino-Euphorie, auf späte Abende und längere Nächte manchmal große Kino-Müdigkeit.

Dann kann man auf Nebenwege auswandern und verpasst vielleicht genau das, was von den anderen gerade entdeckt wird. Oft schon hatte die Retrospektive Zuflucht beim Kanon geboten. Ich ging diesmal von den unfassbar unterhaltsamen Coen-Brothers zur Eröffnung im seltsamen Friedrichstadtpalast durch die Kinokatakomben des Potsdamer Platzes ins Delphi Kino zur „Hachimiri Madness“, der historischen Nebenreihe im „Forum des internationalen jungen Films“, jener Sektion, deren Programmdichte allein vollkommen ausreichend wäre für ein eigenständiges Festival.

Outcasts und Misfits sind die Superhelden der hier gezeigten japanischen Punk-Filme aus den 80er Jahren - Aussenseitertum als Lebensform, dessen hemmungslose Bearbeitung mit Super8 ihr Gegenstand. In dem Prä-Punk-Film „Isolation of 1/880000“ (1977) von Sogo Ishii bereitet sich ein einsamer Studienplatzanwärter auf die Aufnahmeprüfung an einer Tokioter Universität und damit auf den ersehnten Anschluss an das gesellschaftliche Ganze vor. Dabei lässt er sich von seiner Sehnsucht ablenken, wird vom Gitarre-spielenden Nachbarn tyrannisiert und vergeigt am Ende die Klausur.

„Isolation“ unterscheidet von zahlreichen Entfremdungsetüden im AutorInnenfilm der Gegenwart, dass das Material zum einen die problematisierte Vereinzelung in kurzen Einstellungen schlau veranschaulicht und wirklich auch erzählt, zum anderen Resultat einer autonomen Bildproduktion ist, die mit ihrer Freiheit bei jeder Aufnahme etwas neues anzufangen weiss. Man macht halt das, was man will und mag. Zwischendurch werden Kaninchen gefüttert, und das ist wirklich einfach total schön. Dennoch ist das ganze Projekt der Selbstintegration natürlich trotzdem zum Scheitern, also zum kinematografischen Amoklauf verurteilt.

Eines morgens wacht der studentische Titelheld aus „Tokyo Cabbageman K“ (1980), frei nach Kafka, aber schneller, statt mit einem Kater mit einem in Spitzkohl verwandelten Kopf auf. Es folgt eine einstündige Tour-de-Force, das Tempo ist krass, ständig brettert neue Musik los, Antonio Vivaldi und J-Punk. Sie treibt den Cabbageman durch die Straßen Tokios. Er wird zum Medienopfer, das Privatfernsehen führt Straßenumfragen zur Bedeutung von Kohl durch: „Kohl ist absurd.“ „Warum?“ „Er soll ein billiges Nahrungsmittel sein. Wenn er jetzt auch noch teuer wird, ist er einfach nur noch absurd. Drogen und Rock helfen.“ Der Cabbageman wird von Yakuza-Gangstern gejagt, die Drastik kennt keine Grenzen. Am Ende ruft er eine Telefonseelsorge für Jugendliche an, bei der ihm geraten wird, sich doch einfach umzubringen. Also gräbt er sich selbst in ein Kohlbeet ein. Endlich Ruhe.

Die destruktiven Charaktere waren eindeutig jung und heiter, Sion Sono einer von ihnen, „I am Shion Sono!!“ (1984) sein Selbstportrait und künstlerisches Manifest. Mit der Kamera durch die Stadt rennen, eine Schulfreundin von früher aus dem Bett klingeln und mit ihr auf einer Vorortstraße herumstehend das Gekreische der Fernsehshows imitieren, danach sich den Kopf rasieren lassen, nackt um blutige Mamorbüsten kriechen und in einem verlassenen Ballsaal herumdaddeln – was transgressionsmelancholisch hätte enden können, wird durch die Montage zu einem unterhaltsamen Bild des Künstlers und der Medienrealität seiner Zeit. „Heute ist der dritte Dezember. Ich bin 22 Jahre alt.“

Das alles ist aber auch schon sehr lange her. So démodé wie Super8-Film im Moment ist – seitdem Retromania niemanden mehr interessiert, scheint die nostalgisierende Aura des Materials nicht mal mehr für Musikvideos von Belang zu sein – so genau zum richtigen Zeitpunkt kommt die Reihe, als rückblickende Unterscheidung zum fast total digitalisierten State of the Art der unabhängigeren Film- und Videoproduktion.

Zwei der aktuell relevantesten Positionen des (diesjährigen) Festivalkinos, die diesen grundlegend veränderten Materialstand auch reflektieren, bewirken Intensität und Sinnproduktion durch Formen der Ausdauer, die das Publikum auf ganz unterschiedliche Weise adressiert. In Wang Bings zweieinhalbstündiger Dokumentation „Ta’ang“ (Forum) sieht man Geflüchtete der Ta’ang-Minderheit, die vor Bürgerkriegshandlungen aus Myanmar über die Grenze nach China gekommen sind. Zelte aus Plastikplanen und Zuckerrohr werden aufgebaut, Handytelefonate mit der Verwandtschaft geführt, Schutz gesucht. Kein Voice-Over, keine einordnenden Grafiken, nur ein einzelner Titel am Anfang. Ich kann nach dem Film kaum irgendetwas über den zu Grunde liegenden Konflikt sagen. Ein fast unvermitteltes Video-Capture, in Dauer und Leinwandgröße so skaliert, dass jedes News-Format gesprengt wird und mich so durch eine Ästhetik der Ansicht erster Ordnung zum Zeugen werden lässt.

Ein anderer Weltkino-Titan dieser post-kinematographischen Situation ist der philippinische Regisseur Lav Diaz, vor etwa einem Jahrzehnt bekannt geworden mit extrem langen und pixeligen MiniDV-Epen über die philippinische Nationalgeschichte. Die Programmierung seines neuesten Werks „A Lullaby for the sorrowful mystery“ mit acht Stunden Spielzeit im Wettbewerb war Grund zur Freude für alle Enthusiasten. Lav Diaz selbst hat im Hinblick auf die Länge seiner Arbeiten gesagt, er fände es gut, wenn die Zuschauer das Kino auch verlassen könnten und wüssten, dass die Filme dann noch da sind, um zu den Bildern zurückzukehren. Man sollte einen Saal in einem der Multiplexe am Potsdamer Platz für eine Dauerausstellung der Filme von Diaz umwidmen.

Während man noch das Labyrinth mit seinen verschlungenen Pfaden, Sackgassen und Nischen durchwandert, sieht es so aus, als hätten die anarchischen, exzessiv-lebendigen Momentaufnahmen der Hachimiri Madness das Kino heute in Richtung Trecartin, Snapchat etc. verlassen, mit Film als sehr locker gehandhabtem, relativ beliebigem Bezugspunkt in einer vermeintlich komplett entgrenzten, simultanen Sphäre der Bildzirkulation. Auf der Berlinale wird hingegen weiter öffentlich Zeit getauscht, für eine noch so vereinzelte Suche nach gemeinsamer Kinoerfahrung.

Max Linz ist Regisseur und Autor und lebt in Berlin. Sein Spielfilm " Ich will mich nicht künstlich aufregen" lief 2014 im Forum der Berlinale. 2015 war am HAU die Theater/Film-Performance "Ultra High Definition Kinoki" zu sehen.

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